ein Projekt von Tomas
Schweigen & Ensemble
nach dem Roman »Die andere Seite« von Alfred Kubin
URAUFFÜHRUNG
Regie: Tomas Schweigen
»Gleichsam seismographisch haben
Sie ein Bild entscheidender Vorgänge unserer Zeit vorgezeichnet« schrieb Ernst Jünger 1908 an seinen Freund Alfred Kubin,
nachdem er dessen Debütroman »Die andere Seite« verschlungen hatte. Heutzutage liest der sich zunächst wie eine verheißungsvoll-
eskapistische Zukunftsvision. Heute, da die Mauern der Festung Europa, die verzweifelt um Sicherheit und Wohlstand kämpft,
immer brüchiger werden. Wer hätte sich im Jahr 2016 nicht beim Gedanken an das Auswandern ertappt, an den Rückzug in eine
Welt ohne Angst, Terror und Krieg? Wer würde nicht gerne frei von finanziellen Sorgen leben, ohne Stress, unbehelligt von
der Gefahr eines politischen, ökonomischen oder individuellen Systemkollapses? Wer hätte nicht schon besorgt darüber nachgedacht,
ob sich die Geschichte wiederholt? »Der taumelnde Kontinent« oder »Die Schlafwandler«: Die Zeitdiagnosen, getroffen über Kubins
Epoche am Vorabend von Weltkriegen und Faschismus, könnten sich fast gespenstisch auch auf unsere Zeit beziehen. Wer würde
sich da also nicht über eine Einladung in ein Reich fernab aller weltpolitischen und ökonomischen Verwerfungen freuen?
»Claus Patera, absoluter Herr des Traumreichs, beauftragt mich als Agenten, Ihnen die Einladung zur Übersiedlung in
sein Land zu überreichen.« Was für ein verlockendes Versprechen, das der namenlose Protagonist von Alfred Kubins Roman zu
Beginn erhält! Utopische Aussichten! Sein alter Schulfreund Patera habe, zwischenzeitlich zu sagenhaftem Reichtum gekommen,
in Zentralasien einen neuen Staat gegründet. Ein Land, dessen Bewohner frei von allen Sorgen und Nöten der Gegenwart leben
könnten. Schrankenlose Individualität für alle! Ein Land, in dem alle immer über unendliche Ressourcen verfügen, in dem Geld
zum sinnentleerten Spielzeug degradiert ist, weil es ohnehin allen permanent im Überfluss zur Verfügung steht. Das Traumreich
verspricht außerdem den wohligregressiven Schritt in die Vergangenheit, zurück in die gute alte Zeit: alle Häuser bestehen
aus Fragmenten historischer Gebäude aus Europa! Moderne Techniken von zweifelhaftem Nutzen, die doch nur das Leben sinnlos
beschleunigen und Stress verursachen, bleiben draußen! Ausgestattet mit einem großzügigen Reisekostenzuschuss über 100.000
Mark in Form eines Schecks unbekannter Herkunft, machen sich der Protagonist und seine Ehefrau auf den Weg. Nach einer tagelangen
Reise erreichen sie eine ungeheure, scheinbar grenzenlose Mauer in dichtem Nebel – das Tor zum Traumreich. Seltsam beklommen
betreten sie nach einer weiteren Bahnfahrt die Stadt Perle und werden dennoch schnell heimisch dort. Bald aber häufen sich
seltsame Vorfälle: unbekannte Handwerker erscheinen plötzlich in ihrem Haus, um alle Fenster zuzumauern. Die Frau des Erzählers
erkrankt an einer unerklärlichen Krankheit. Patera, der Gastgeber, der sie doch eigentlich in das Traumreich eingeladen hatte,
ist nie aufzufinden. Andere Bewohner berichten von erschreckenden Vorkommnissen, Visionen, unerklärlichen Angstzuständen,
die sie plötzlich von Zeit zu Zeit heimsuchen. Obwohl der Herrscher unsichtbar bleibt, scheint er dennoch alles in der Stadt
zu überwachen und zu kontrollieren. Als jedoch eines Tages der milliardenschwere Tycoon Herkules Bell auftaucht, beginnt im
Traumreich ein brutaler Krieg aller gegen alle und das Idyll taumelt dem Untergang entgegen...
Alfred Kubin, geboren
1877 in Böhmen, arbeitete ab 1900 als Zeichner und Illustrator und war eines der Gründungsmitglieder der Künstlervereinigung
»Der Blaue Reiter«, die maßgeblich die Epoche des Expressionismus prägte. Als Bildender Künstler wie auch als Autor seines
1908 erschienenen Romans war der Sohn eines Landvermessers ein wichtiger Impulsgeber für die surrealen Welten Franz Kafkas
und pflegte enge Beziehungen zu Künstlern wie Wassily Kandinsky oder Franz Marc. Jahrzehnte vor den großen dystopischen Romanen
von Orwell oder Huxley entwirft er das Szenario einer gläsernen Gesellschaft. Seine Literatur ist wegbereitend für das Genre
der Phantastischen Literatur des 20. Jahrhunderts.
Tomas Schweigen eröffnet seine zweite Saison am Schauspielhaus
mit einem surrealen, hintergründig-unterhaltsamen Abend, der über die Widersprüchlichkeit politischer Utopie erzählt. Denn
die Bewohner des Traumreichs haben sich in der Abwägung von Sicherheit und Freiheit definitiv nicht für den Schutz der Bürgerrechte
entschieden. Im Gegenteil führt »Traum Perle Tod!« uns ins kollektive Unbewusste einer sich abschottenden Gesellschaft, deren
Sehnsucht nach politischer Führung bedrohliche Züge angenommen hat. Die beißende Satire auf die heißlaufende Beschleunigung
von Kapitalismus und Geldwirtschaft mündet in die abgründige Untergangsphantasie einer heraufziehenden Ära menschlicher Katastrophen.
Mit freundlicher Unterstützung von